Drei Fragen an Prof. Johannes Drerup
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Prof. Drerup, Sie haben den Band in kurzer Zeit zusammengestellt und nur wenige Monate nach Beginn der Krise veröffentlicht. Was waren Ihre Beweggründe?
Dank der guten Zusammenarbeit aller Beteiligten konnten wir den Band schon rund drei Monate nach unseren ersten Vorüberlegungen veröffentlichen. Mein Kollege und Mitherausgeber Gottfried Schweiger von der Universität Salzburg hatte sich auf seinem Philosophie-Blog bereits sehr früh mit dem Thema beschäftigt. Ich war zugegebenermaßen selbst zunächst eher skeptisch aufgrund der vielen empirischen Unklarheiten, durch die die Situation damals wie heute gekennzeichnet ist, und aufgrund der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fallstricke, die philosophisch ambitionierte Zeitdiagnosen mit sich bringen. Zugleich erscheint es nicht sinnvoll, sich in der Auseinandersetzung mit einer solchen Situation im Elfenbeinturm zu verbarrikadieren. Eine zentrale Aufgabe besteht aktuell darin, sich abzeichnende Problemvorgaben und -felder systematisch zu bearbeiten und Vorschläge zu machen, wie die Ereignisse aus philosophischer Sicht zu beschreiben und einzuordnen sind. Die Autorinnen und Autoren des Bandes zeigen meines Erachtens sehr gut, dass man – auch unter Bedingungen schneller Veränderungen und großer Unsicherheit – plausible und inspirierende philosophische und erziehungswissenschaftliche Beiträge liefern kann. Meiner Auffassung nach ist es Teil der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die eigene Expertise in die öffentliche Debatte einzubringen und auch zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen Stellung zu beziehen. Der Band richtet sich als Form der „public philosophy“ daher an Eltern, Lehrkräfte, Personen, die mit Familien und Kindern arbeiten, und an alle, die sich für philosophische Fragen zu den Themen Kindheit, Bildung und Erziehung interessieren.
Sie schreiben im Vorwort, dass die Probleme, die sich in der Coronakrise zeigen, keine radikal neuen Probleme sind. Was meinen Sie damit?
Viele gesellschaftspolitischen Dauerprobleme – wie etwa Bildungsungleichheiten oder häusliche Gewalt – werden derzeit vermehrt in der Öffentlichkeit diskutiert und gewinnen damit an öffentlicher Sichtbarkeit. Sie waren aber selbstverständlich auch schon vorher da. Zugleich ist davon auszugehen, dass sich diese Probleme in der aktuellen Krise intensivieren. Ich denke, wir haben es grundsätzlich mit mehreren interdependenten Krisen zu tun, das heißt einer medizinisch-gesundheitspolitischen, ökonomischen, politischen und eben auch pädagogischen Krise. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, wie in einigen Ländern politisch mit der Pandemie umgegangen wird – etwa in Indien, Brasilien oder den USA, deren Präsident ja beispielsweise etwas befremdliche Ideen zur Nutzung von Desinfektionsmitteln hatte. Trotz aller legitimen Skepsis gegenüber einer Pädagogisierung politischer Debatten oder der Überfrachtung der Schule mit allen nur denkbaren gesellschaftlichen Erwartungen: Hier offenbaren sich ganz offensichtlich auch enorme Bildungsdefizite in der Bevölkerung, die auf Herausforderungen und Aufgaben für Demokratieerziehung und demokratische Bildung verweisen. Schulen und Universitäten sind hier aufgefordert, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Ich denke, dass die Disziplin Erziehungswissenschaft dafür prädestiniert ist, diese und ähnliche Probleme in und außerhalb der Universität reflexiv zu bearbeiten und zu diskutieren.
Bekanntlich wohnt jeder Krise auch eine Chance inne. Welche Chancen könnten sich aus der Coronakrise für die Bildung und Erziehung ergeben?
Zunächst sind es neben den Chancen vor allem die Herausforderungen, die ungemein vielfältig sind: Angefangen von der Vereinbarkeit von beruflichen Pflichten und der Fürsorge für die eigenen Kinder bis hin zur Umstellung auf digitale Lehre und der – aus Sicht von Kindern und Jugendlichen – damit einhergehenden Vereinsamung im Lockdown und dem Verlust verlässlicher Routinen und Strukturen außerhalb des Elternhauses, die pädagogische Institutionen liefern sollten. Natürlich gibt es zugleich immer auch Chancen und Möglichkeiten, die eine solche Krise bietet. Es ist nur die Frage, wer diese Chancen mit welcher Motivation, welchen Mitteln und auch mit welchen Folgen praktisch zu nutzen weiß. Für Digitalisierungsprozesse etwa bedeuten die aktuellen Entwicklungen sicherlich einen Durchbruch, auch und gerade in pädagogischen Kontexten. Ob und wie dieser Durchbruch aber dann längerfristig zu bewerten ist, welche konkreten Folgen damit in unterschiedlichen Praxisdomänen und Lebensbereichen verbunden sein werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer prognostizieren. Die längerfristigen individuellen und kollektiven Lern- und Bildungsprozesse, die eine solche Krise nach sich ziehen werden – und das ist im Übrigen eine Lektion, die man aus der Bildungstheorie lernen kann – sind zunächst weitgehend offen. Zu befürchten ist derzeit, dass wir uns auf einen Dauerkrisenzustand einstellen müssen. Was auch immer aber in den nächsten Monaten auch an der TU Dortmund auf uns zukommen wird – ich denke, dass die bisherigen Erfahrungen uns zumindest eines gelehrt haben: Wir schaffen das.
Zur Person:
Johannes Drerup ist seit Oktober 2019 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund. Er wurde 2013 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Fach Erziehungswissenschaft promoviert und vertrat anschließend verschiedene erziehungswissenschaftliche Professuren an der Universität Koblenz-Landau. Seit Mai 2019 ist er zudem Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam, wo er gemeinsam mit Prof. Melanie Ehren die Forschungsgruppe „Educational Governance and Philosophy of Education“ leitet. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der Erziehungs- und Bildungstheorie, der angewandten pädagogischen Ethik sowie der Theorie und Praxis von Demokratieerziehung und demokratischer Bildung. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Harvard Graduate School of Education arbeitet er derzeit an einer internationalen Langzeitstudie, die sich mit ethischen Problemen und Herausforderungen befasst, die die Pandemie aus Sicht von Lehrkräften mit sich bringt.
Weitere Informationen
Das Buch:
Drerup, Johannes / Schweiger, Gottfried (Hrsg.): Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand – Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie.
ISBN: 978-3-534-27288-4
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